Berlinale 2023, die Erlösung

Da war sie plötzlich: die Erlösung. In Form von drei wilden, ungezähmten, ungehemmten Filmen, die permanent Fragen stellen und Antworten verweigern. Filme, die sich ins Gedächtnis einbohren wie schlechte Träume. Filme, die sich einen Scheißdreck um Chronologien, Konventionen und Korrektheiten scheren und damit ein Kino repräsentieren, das nach wie vor abenteuerlich, unkontrollierbar, einschüchternd und kryptisch ist. Und dem ich seit Jahrzehnten verfallen bin.

Ein Arthouse-Porn-Drama, ein Film über ein eskalierendes Familienfest und ein japanischer Horror-SciFi-Film zeigen, wie viel rohe Kraft und pure Vision 2023 noch im Kino stecken kann.
„White River“, „The Uncle“ und „New Religion“ verbindet das Wagnis, Filme zu schaffen, die Sehgewohnheiten hinterfragen und Erzählformen durcheinanderwirbeln.

So liefert das Spielfilm-Debüt „White River“ von Ma Xue in 90 Minuten eine unübersichtliche Menge ziellosen Sex gelangweilter und entfremdeter Protagonist*innen – mit halbgaren Ausflügen in die Poesie. Nix Neues, so scheint es. Doch wie die Regisseurin explizite, sexuelle Begegnungen als Ersatz für Dialoge einsetzt, erfrischt und befreit. Der Akt an sich verliert völlig seine filmische Romantik und Verklärung. Ich bin mir sicher, „White River“ wird noch für viel Verwirrung und Ablehnung sorgen – sollte er sich auf die großen Leinwände dieser Welt gelassen werden.

Bei „The Uncle“ könnten Yorgos Lanthimos und Michael Haneke im ehemaligen Jugoslawien gemeinsame Sache gemacht haben. So jedenfalls hört sich der Plot an und so werden auch die Stilmittel eingesetzt: Am Ende der 1980er-Jahre warten ein Paar und ihr Sohn sehnsüchtig auf das Eintreffen des geliebten Onkels zu Weihnachten. Als er allerdings endlich erscheint, zeigen sich immer wieder Risse in der konstruierten Festtagsumgebung. Konsequent unentschlossen wandeln die beide Regisseure Andrija Mardešić and David Kapac zwischen Home-Invasion-Thriller, schwarzer Komödie oder beißender Allegorie auf die gesellschaftlichen Verhältnisse. Mit viel Retro-Charme inszeniert wird permanent an der Personenkonstellation herumgeschraubt und Narrationen auf den Kopf gestellt. Versprochen: Von diesen beiden Debütanten werden wir noch so einiges hören!

Gleich vom ersten Moment an war ich ein großer Fan von „New Religion“, dem Erstlingswerk von Keishi Kondo: dieser hypnotische Industrial-Soundtrack von Abul Morgard, diese rötlich schimmernden, sich ständig verformenden, abstrakten Elemente der Titel-Sequenz und das Gefühl, hier könnte etwas Besonderes lauern. Mein erster Eindruck hat mich nicht getäuscht, obwohl ich, schnell auf ganzer Linie scheitern würde, sollte ich alle Rätsel dieses filmischen Rauschs aufklären wollen. Ein Film, der so vollständig, emotional komplex und künstlerisch mehrdeutig ist, ein Film, der unweigerlich die Meinungen spalten wird und mit dem Freunde des Horror-Genres sicherlich nur wenig anfangen können. Wer allerdings bei „elevated Horror“ der Cronenbergschen New-Flesh-Theorie und kunstvollen Bildwelten hellhörig wird, könnte hier einem finsteren Filmmonster gegenüberstehen, das noch lange die Synapsen bearbeiten wird.

Volker Beller für Randfilm

Weiterlesen

Berlinale 2023 – Day twothreefour

Tag zwei und drei und vier oder wie es nach 15 weiteren Sichtungen in mir drin aussieht.

Die gute Nachricht zuerst: Ich habe erneut eine hervorragende Lilith Stangenberg gesehen. Selbst in einer hundsmiserablen Kinoadaption von Jeremias Gotthelfs „Die schwarze Spinne“ hebt sie sich bravourös vom ganzen Freilufttheaterverve des Films eindrucksvoll ab. Spätestens jetzt, eigentlich ja schon seit dem herausragenden „Wild“, bin ich ein echter Fanboy geworden und verfolge all ihre filmischen Taten.

Die bisherige Berlinale-Auswahl an Genre-Beiträgen ist zwar recht breit – u. a. mit Titeln wie „Nightsiren“ (CZ 2022), „The Unsettling“ (USA 2022), „The Creeping“ (USA 2022), „Black Kisses“ (COL, MEX 2022) oder „Dark Windows“ (USA 2022) und „The Harbinger“ (USA 2022) -, doch leider hat bisher keiner dieser Titel dem strengen Blick des Festivalmachers und Freund des visionären Kinos letztendlich standgehalten. Zu schematisch, zu wenig mutig, verstrickt in immer gleiche Narrative, uninspiriert gefilmt und nahezu identisch kommen diese Filme daher: Gut vs. Böse, Vergangenheit vs. Gegenwart, Jung gegen Alt, Glaube vs. Unglaube oder Wissenschaft.
Es sind immer wieder die gleichen Gräben, die sich auftun und die überwunden werden müssen.

Glücklicherweise warten da noch einige vielversprechende Titel a la „New Religion“ (JP), „The Uncle“ (CRO), „Heimsuchung“ (A) oder der neue Quarxx „Pandemonium“ (F 2023) auf mich.
Über die restlichen Sichtungen gibt es nicht viel zu berichten: Einige thematisieren mehr oder weniger die Zeit während der Pandemie und verknüpfen sie mehr oder weniger geschickt mit eigenen (Zukunfts)-Ängsten, Paranoia, Entfremdung oder Ablehnung.
Ein Film wie „Silver Haze“, ein wunderschön gefilmtes britisches Sozialrealismus Drama über die ureigenen Familiendämonen, verliert sich schlussendlich noch in seiner Heile-Welt-Familie-Mystifizierung.
White River“, ein echter „Arthouse-Porn“, der zu 90 Prozent nur aus unterschiedlichsten Kopulationen, Masturbationen und Ejakulationen besteht, verlässt seine Protagonist*innen zu schnell, um sich theoretisierend dem Phänomen von Cuck-Olds und Threesomes zu widmen.
Ob dieses Soft-Porn-Vehikel in Form eines „poetischen Blicks“ auf das neue China Spuren hinterlassen wird, vermag ich nicht zu beantworten.

Zum Schluss der heutigen kleinen Exkursion über den Marktplatz der Berlinale möchte ich noch lobend den schwedischen Coming-of-Age-UFO-SciFi „UFO Sweden“ erwähnen. Die Produktion hat Schwung, sie versteht zu erzählen und enthält unzählige Bonmots für Freunde von Spielberg, Lukas, TKKG und Akte X.

Volker Beller für Randfilm

Weiterlesen

Berlinale 2023 – Day One

Der monströse Festival-Circus öffnet vom 16. bis 26. Februar wieder seine Manege im schnöden Berlin. Darum wirft Randfilm in den nächsten Tagen ungenierte Blicke auf das Genregeschehen, auf die mehr oder weniger radikalen Dramen und einige seltsame Film-Hybriden.

Tag 1 hatte es schon mehr als in sich, denn die Bandbreite erstreckte sich von einer Dokumentation über den Luftkrieg im WW2, einer Teenage-Angst-Dramödie, einem too edgy french movie, einem vietnamesischen Revenge-Thriller, einer argentinischen Reflexion über den Dreh eines verfluchten Films bis zu einem kontemplativen „Beau-Travail-Klon“ in Schwarz-Weiß.

„The Natural History of Destruction“ oder einfach „Luftkrieg“ versucht, von der gewaltigen Zerstörung der Städte und des Lebens durch Luftstreitkräfte und Bomberpiloten zu erzählen.
Der Dokumentarfilm vermeidet jede Form von Off-Kommentaren, fängt sich allerdings manchmal den Vorwurf von einfachem Revanchismus ein. „Luftkrieg“ ist eine europäische Gemeinschaftsproduktion mit besonderer Unterstützung des MDR.
Der Film arbeitet mit plumpen Propaganda-Aufnahmen, aber auch mit einzigartigen Archivmaterial, inkl. unzähliger Luftaufnahmen aus Zeppelinen, Bombern oder anderen Flugobjekten. Das alles wirkt gut gemeint, hat in seinen abstrakten Momenten eine ganz eigene Kraft, verliert sich aber in der Laufzeit in Wiederholungen.

„Melody-Go-Round“ (Taiwan 2022) balanciert nahezu geschickt zwischen Familiendrama, Campness, Teenage-Angst und magischem Realismus. Der Film wirkt zunächst ambitioniert, möchte „echte“ Personen zeigen und diese ernstnehmen. Aber er bekomt die wichtigen Themen Ablösung, Neuanfang, kapitalistische Warenwelt und Lebenskrise nur bedingt in den 102 Minuten unter. Letztendlich mündet er in eine Happy-Families-Idylle.

Da ist der französische Beitrag „Orso“ schon ein anderes Kaliber: Louison leidet unter heftigen bipolaren Attacken und verschlingt förmlich ihr Leben. Leider ist der gute Orso unsterblich in sie verliebt, obwohl er ahnt, dass das alles böse enden wird. Regisseur Bruno Mercier fährt hier förmlich alles auf, was zu einem sogenannten „edgy Drama gehört: düstere, karge Landschaften und Räume, ständig nackte Körper auf schmuddeligen Laken, Sex & Gewalt satt sowie spärliche Dialoge. Er kann aber nie verhindern, dass sich das alles sehr plakativ, simpel und wahnsinnig langweilig anfühlt. Die Chance wurde mehr als vertan, würde Randfilm sagen.

Einfach gestrickte, aber knackige Action verspricht hingegen der Trailer zu „578 Magnum“ (Vietnam 2022). Hier wird alles an (Action)-Klischees versammelt, was dem Krawallkino schon seit Jahrzehnten gut und teuer erscheint: heldenhafte Maskulinität, hohes (Erzähl)-Tempo, Martial-Arts in Vollendung, rotzige Bikerhorden, blutgierige Bösewichte, im Anzug verkleidete Sadisten und Girls, die beschützt werden wollen. Dazu kommt viel Regen, ständig wechselnde Schauplätze und eine an John Woo und Sam Peckinpah erinnernde Zeitlupen-Ästhetik.
Vom Film bleibt letztendlich aber nicht viel mehr als reine Stereotypen und Actionszenen vom Ramschtisch übrig. Nichts wirkt dramaturgisch gut inszeniert, Szenen werden einfach abgebrochen und die Montagen sind mehr als schluderig.

Aktivieren Sie JavaScript um das Video zu sehen.
https://youtu.be/8k0Hq8IEWbk

Trailer zu 578 Magnum

Auch als Zwischenkost enttäuscht der französische Film „Before We Collapse“ und macht auch nicht Lust auf mehr. Die Generation der Thirty Somethings mäandert zwischen Selbstfindung, nicht abgeschlossener Vergangenheit und schlichten Revolutionsideen durch 100 Minuten Film und hat wirklich nichts zu sagen.

„Luka“ wird als „visuell fesselndes, erzählerisch dichtes Drama kafkaesquen Ausmaßes“ (Screen Daily) angepriesen. Leider überzeugt auch dieser Ansatz eines surrealen und dystopischen Dramas über die Grenzen der Zivilisation nicht. Manieriert, statisch und theaterbühnenhaft bewegen sich wunderbare Darsteller wie Geradine Chaplin und Sam Louwyck durch ein schwarz-weißes Wüsten-Fort-Setting und rezitieren ihre Texte.
Mehr als eine leblose, blutleere und symbolische Reflexion über die Sinnlosigkeit von Konflikten, Autoritäten und der militärischen Absurdität bleibt leider nicht übrig.

Das Highlight des Tages war dann doch „Matadero“. Allerdings reichte es auch hier nur zu einer „Ist einen Blick wert“-Wertung. Mit der Story um einen verfluchten Film-Dreh, der in einer Rückblende erzählt wird, war der Boden für ein aufregendes Filmerlebnis bestens bestellt gewesen. Auch der historische Schauplatz Argentinien in den Jahren der Post-Peron-Diktatur schien perfekt gewählt. Das Debüt von Santiago Fillol schafft es in den ersten 30 Minuten wirklich zu glänzen. Hypnotische Bilder kombiniert mit einem wundervollen Soundtrack untermalen die mehr als rätselhafte Atmosphäre um die Geschichte des verschollenen Films. Die Erwartungen an eine radikale Auflösung, die das Unsehbare auf eine ganz spezielle Art und Weise sichtbar machen wird, sind groß. Aber der Film verliert immer mehr seine aufregenden Bilder, seine mysteriöse, schwer zu greifende Atmosphäre und wird zu einem einfach gestrickten Arthouse-Film, der sich einen Dreck um die Möglichkeiten seiner Ausgangssituation schert.
Am Ende sitzen wir ratlos vor der Leinwand und beschwören schnell mal die Geister von Claire Denis, David Lynch und Alejandro Jodorowsky.

Volker Beller für Randfilm

Weiterlesen