Das Geheimnis der gelben Särge

Cannes Film Festival 2016 – eine Rückschau im Blindflug

Manchmal wird das Leben, wenn man die Dinge bloß flüchtig, so halb links aus dem Augenwinkel heraus betrachtet, plötzlich unerwartet interessant.

So also neulich, als ich, auf dem Weg zur Arbeit, wie immer zu spät, in Richtung meines Autos hetzte, die Aufmerksamkeit voll auf seinen möglichen Aufenthaltsort gerichtet, (es war gestern spät und die Parkplatzsituation in dieser Gegend katastrophal – ich hatte schlicht vergessen, wo es stand), auf dem Weg durch den Hausflur etwas wahrgenommen haben mußte, allerdings nur unterschwellig, wie die Figur aus einem Dario-Argento-Giallo, ein wichtiger Clue, der alles entscheidende Hinweis, dessen wahre Bedeutung mir allerdings nicht sofort einleuchten sollte.

Erst als ich bei der Arbeit ankam, abgekämpft, nicht ganz so spät wie sonst (das Auto stand direkt vor der Tür, schräg über den Gehsteig an ein Parken-Verboten-Schild gelehnt), fielen mir die gelben Särge ein. Gruselig. Wo und weshalb sie mir begegnet waren, konnte ich nicht festmachen. War es ein Bild, übrig geblieben aus dem Alptraum der vergangenen Nacht (IS-Terroristen hatten während meines Finnland-Urlaubes die Atombombe gebaut und verhandelten jetzt mit meinem Vermieter über meine Plattensammlung – aber was hatten gelbe Särge damit zu tun?) oder war es einfach etwas, das ich unterwegs beobachtet hatte? Warum traf man die Frau meines Nachbarn in letzter Zeit nicht mehr – war sie wirklich zu ihrer Tante nach Dänemark verreist und warum blieben die Vorhänge drüben neuerdings geschlossen? Ich probierte mich abzulenken. Vergeblich. Rätsel ohne Lösung fordern eben die Fantasie heraus.

Ähnlich ist es mit Filmen, die man nicht gesehen hat. Anhand spärlichster Informationen baut man sich seinen eigenen Film. Oder besser: Ich mache das so. In den späten Achzigern, als David Cronenberg in Deutschland noch nicht Liebling der Uniprofessoren war und man bei Videoabenden, an denen man „Die Fliege“ durchgedrückt hatte noch als Schwein bezeichnet werden konnte, waren die meisten seiner früheren Filme in Deutschland gar nicht erhältlich. Zu beschreiben, was ich hinter dem Titel „Rabid – der brüllende Tod“ für einen Film vermutete wurde Jahre später von der Realität der tatsächlichen Sichtung bittere Lügen gestraft (in dem Film geht es um eine junge Frau, die ihren Opfern in Pornokinos und andernorts auf eher leise Art mittels eines Stachels in ihrer Achselhöhle das Blut aussaugt). Nicht eben Enttäuschung – aber auch nicht unbedingt der Film den ich gern gesehen hätte. Der wahre „Brüllende Tod“, das wahre laute, bluttriefende Inferno, muß erst noch gemacht werden, wenn auch Cronenberg wohl nicht mehr dafür in Frage kommt.

Der Film im Kopf übertrumpft jedes noch so gutgemeinte Kinowerk. Das ist auch der Grund, warum man sich den Weg auf pompöse Festivals eigentlich sparen kann. Wie das vor Kurzem zu Ende gegangene Cannes Film Festival. Wie Presse und Fernsehen beweisen, muß man keine Ahnung haben, um darüber schreiben oder sprechen zu können:

Da gab es zum Beispiel den Eröffnungsfilm von Woody Allen. Großartig: „Ich möchte keinem Club angehören, der Leute wie mich als Mitglied aufnimmt“, der klassische Allen-Gag, geht hier in die zwanzigste Runde: ich glaube, keiner hat die Filmfestspiele von Cannes schon öfter eröffnet als er. Die Franzosen verstehen eben seine Filme, heißt es. Gefragt, was er gedacht habe, als sein Stiefsohn öffentlich bedauerte, daß man die Vergewaltigungsvorwürfe der Schwester gegen Allen nicht ernster genommen habe, sagte Woody, daß er keine Kritiken läse. Sein neuer Film, „Cafe Sentimental“, zeigt Hauptdarstellerin xy (später recherchieren) auf der Suche nach der Handlung (Zitat: Titel, Thesen, Temperamente). Vielleicht in Anlehnung an Pirandello. Allen, der alte Fuchs, hat es wieder geschafft, die Realität auf den Kopf zu stellen. Der Komiker-Philosoph zeigt uns die Welt als das, was sie ist: oberflächlich und so so nineteentwenty.

Eine Frau will ihre Terasse betreten und läuft gegen die Terassentür. So beginnt der neue Film von Paul Verhoeven. Der herbeieilende und von dem Geschrei bei der Skigymnastik gestörte Gärtner probiert sie zu beruhigen, zumindest wird er das später bei der Polizei so darstellen, was aber in Wirklichkeit passiert, ist, daß die Frau vergewaltigt wird und man den ganzen Film über nicht weiß, ob es ihr nicht vielleicht doch gefallen hat. Kino kontrovers. Erst, als der Gärtner seine eigene Harke ins Genick bekommt, versteht man, daß es eher nicht so war. Eine Hommage an Woody Allen (Vergewaltigung) und Verhoevens eigenen Film mit dem Eispickel (RoboCop).

Auch Nicolas Winding Refn hat einen neuen Film gedreht, ganz in Neonlicht getaucht. Kannibalismus, schöne Frauen, häßliche Taten. Leere Zeichen, heißt es bei TTT (ARD, Mai 2016). Im Interview lassen ihn die Reporter ganz schön auflaufen, indem sie ihn und seine Hauptdarstellerin endlos repetieren lassen, daß er ein Genie sei, das wisse schließlich jeder, um hernach per Voice-Over seinen Film niederzumachen. Rache für ein Ego, das locker allein den kompletten Yachthafen ausfüllen könnte? Flieg nicht so hoch, mein kleiner Freund, wie man in Deutschland sagt.

Was uns zur Nicole, oder doch eigentlich besser: zur Lena der internationalen Filmlandschaft bringt. Maren Ade. Deutschland Letzter beim Eurovision Song Contest? Kann sein, aber spätestens jetzt sind wir wieder wer. Szenenapplaus beim sonst immer so stocksteifen Premierenpublikum. „Toni Erdmann“ heißt der Film. Eine Komödie, bei der jeder Witz aus den Figuren herauskommt, und nicht aus der Regisseurin oder dem Drehbuch, heißt es. Eine der Hauptfiguren verkleidet sich als Loriot-Sketch und macht am Ende „den mit der Nudel“. Michel Gondry hat eines der Kostüme aus den „Wilden Kerlen“ für das Filmplakat zur Verfügung gestellt. Im Interview spricht die Regisseurin von Nacktszenen, die aber nichts mit Sex zu tun haben. So weit ist es knapp vierzig Jahre nach der Premiere von „Der letzte Tango“ in Cannes also gekommen. Gleich behauptet noch einer, Butter wäre zum aufs Brot schmieren gedacht.

Die Goldene Palme hat dann am Ende Ken Loach bekommen, für ein Sozialdrama, von dem es im Internet heißt, es sei vorhersehbar und (später recherchieren und vielleicht noch mit div. Synonymen ausschmücken), und man empfiehlt dem Festival eine ausgewogenere Zusammensetzung ihrer Jury, damit die Auszeichungen wieder cinephiler werden (was immer das heißt, schließe ich mich doch mit voller Seele an, statt das nur unreflektiert weiterzugeben). Wobei man stets betont, daß die Nichtauszeichung den nichtausgezeichneten Filmen eigentlich den größeren Gefallen tut, weil ihre ungerechtfertigte Nichtauszeichnung sie ja auch irgendwie auszeichne und Filmpreise wie auch Festivals ohnehin in ihrer Wirkung gnadenlos überschätzt seien (es folgt eine mehrseitige Zahlenanalyse über das Zusammenspiel von auf dem Plakat abgedruckten Filmpreisen mit der tatsächlichen Zuschauermenge, wobei der Test in geografisch unterschiedlichen, was Einwohnerzahl und Bevölkerungszusammensetzung angeht jedoch vergleichbaren Städten durchgeführt wurde, und zwar am Startwochenende in zwei Kinos an jeweils anderen Enden der Stadt, in was Einkommen und sozialen Status angeht ungefähr ähnlichen Stadtteilen, jeweils einmal mit, und einmal ohne Filmpreisabdruck auf dem Filmplakat eines gerade anlaufenden vom Kulturfeuillton gehypten Festivalerfolgs – die Säle blieben in beiden Fällen leer).

Und auch Regiewunderkind Xavier Dolan hat mit seinem Film „Fin du monde“ einen Preis bekommen, nachdem er im französischen Fernsehen ein Skype-Interview über seine neuerliche Beteiligung am Wettbewerb sprechen durfte (das habe ich zufällig spätnachts in der Glotze entdeckt, staunend, wieviele Programme wir seit dem letzten Unwetter plötzlich empfangen können), und das ohne sich aus seiner Wohnung wegzubewegen, einer Kulisse also, welche in mir die Frage aufkommen ließ, ob sein neuer Film wohl genauso unaufgeräumt sei. Glücklicherweise bestätigten sich diese Befürchtungen jedoch nicht. In der Berichterstattung von TTT (ARD, Mai 2016) kamen Dolan und sein Film zum Beispiel gar nicht vor, was mich daran glauben läßt, daß es den neuen Film am Ende wohl gar nicht gibt, sondern bloß den Titel. Immerhin geht es um das Ende der Welt, wobei Dolan galant den Schluß von Lars von Triers Melancholia fortspinnt. Was, bitteschön, sollte es danach noch geben? Eben! Also hat man Dolan wie so viele Male zuvor kurzerhand für seine Konsequenz ausgezeichnet.

Irgendwann in diesem Jahr werden all diese Filme und einige mehr sicherlich bei uns in die Kinos kommen. Oder dann eben später auf Netflix. Oder wenn die Serie gemacht wird. Dann können sich auch wir Normalsterblichen davon überzeugen, wovon Filmjournalisten und Medienvertreter schon heute überzeugt sind.  Für den Moment reichen Fantasie und Spekulation.

Was das Geheimnis der gelben Särge angeht, mit dem ich mich den ganzen Tag lang herumschlagen mußte, so stieß ich auf meinem Heimweg im Hausflur schließlich auf einen Zettel, der die Mieter an die baldige Abholung des wiederverwertbaren Mülls am Freitag erinnern sollte. Gelbe Säcke also, nicht Särge – SÄCKE! Aaaahhhh! Das Leben – wieder um einen interessanten Aspekt ärmer.

 

Bildquelle: Andrea Raffin / www.timeout.com